Zuckerguss
Ich erinnere mich noch so gut daran als sei es gestern gewesen als ich mit meinen 5 Jahren auf dem Tritthocker bei Oma in der Küche gestanden habe, die Hände tief im Plätzchenteig. Das Mehl war über die ganze Küche verstreut und die Waschmaschine am Fenster war unsere Ausroll-Arbeitsplatte.
Ich hatte eine Schürze um und auch ein bisschen Bauchweh, weil Oma niemals nein sagen konnte, wenn meine kleine Schwester und ich den rohen Plätzchenteig aus dem Kühlschrank schon vor dem Backen „probieren“ wollten. Ich lernte wie man Puderzucker anrührte und wie sensibel der Zucker auf kleine Mengen von Wasser reagierte. Die Plätzchenausstecher habe ich immer noch vor Augen. Es gab Pilze und Sterne und Herzen und Tannenbäume.
Ich bin als Kind sehr viel bei meiner Oma gewesen, die nur zwei Häuser weiter wohnte. Doch das Plätzchenbacken ist eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Und am allermeisten liebte ich den Teil mit dem bunten Zuckerguss und den Streuseln. Mir war damals nicht bewusst, dass mich dieses Bild mit dem Zuckerguss bis heute begleiten würde.
Und dann kam dieser eine Tag vor einigen Jahren, [...] an dem ich plötzlich verstand, dass Zuckerguss toll ist und dass egal wie schwer manchmal die Zeiten sein mögen, ein bisschen Zuckerguss alles hübscher und schöner machen kann.
Meine Oma ist schon lange verstorben und am Ende hatten wir kein gutes Verhältnis mehr - zu viele unausgesprochene Konflikte und ein Rosenkrieg meiner Eltern brachte mich dazu, mich „gegen“ meine Oma zu positionieren. Diese Wunden, die das alles verursacht hat, haben sehr lange gebraucht, bis sie verheilt sind.
Ich bereue, dass ich mich mit meiner Oma zu Lebzeiten nicht versöhnt habe und so habe ich nach ihrem Tod ganz lange keine Plätzchen gebacken, weil ich es nicht konnte. Weil ich meinen Frieden nicht finden konnte, weil es mir so falsch vorkam, Zuckerguss auf etwas zu kleistern. Als würde Zuckerguss irgendwas retten oder schöner machen. Ich habe mir jeglichen Zuckerguss auch im übertragenen Sinne in meinem Leben für sehr lange Zeit untersagt.
Und dann kam dieser eine Tag vor einigen Jahren, als ich in meiner Küche stand und nun endlich doch Plätzchen backen wollte und an dem ich plötzlich verstand, dass meine Kindheitserinnerungen so rein und echt sind und nicht entwertet werden können durch etwas, was danach geschehen ist. Dass die Zeit mit meiner Oma wertvoll war und den süßen Zuckerguss verdient hat. Dass Zuckerguss toll ist und dass egal wie schwer manchmal die Zeiten sein mögen, ein bisschen Zuckerguss alles hübscher und schöner machen kann.
Das war der Tag, an dem ich mich mit meiner Oma versöhnte und entschied, dass ich von nun an immer Zuckerguss in meinem Leben haben wollte, besonders dann, wenn es mir schlecht gehen würde. Ich lernte mit der Zeit, dass es bei der Bewertung von Erinnerungen immer auf die Perspektive ankommt und man selbst die Macht hat, jederzeit die Perspektive zu ändern.
Ich lernte mit der Zeit, dass es bei der Bewertung von Erinnerungen immer auf die Perspektive ankommt und man selbst die Macht hat, jederzeit die Perspektive zu ändern.
Wenn ich heute zu meinen Freund:innen sage: „Ich brauche einfach wieder mehr Zuckerguss“ ist das schon so etwas wie ein geflügeltes Wort. Ich meine damit nicht ein Zuschütten von Emotionen, sondern ich meine damit ein Umdenken raus aus der Opferhaltung, rein in die eigene Kraft.
Ich finde trotz des Zuckergusses immer noch Dinge doof, mich machen Dinge traurig, wütend oder sie machen mir Angst. Ein Lockdown z.B. oder Rassismus sind Dinge, die ich niemals auch nur ansatzweise positiv bewerten würde, weil ich weiß, dass mit beidem Existenzen anderer Menschen bedroht werden (und nein, ich möchte hier nicht die beiden Dinge vergleichen, es sind nur zwei aktuelle Themen, die mich jeweils beschäftigen).
Trotzdem streue ich über meinen persönlichen Umgang damit Zuckerguss. Nicht, um die Gefühle anderer zu entwerten, indem ich etwa entscheide, dass es ja gar nicht so schlimm sei oder man nur ein bisschen positiver denken müsse. Auch nicht, weil ich eine Anhängerin von toxischer Positivität wäre. Sondern, weil dieser Zuckerguss für mich für die Option steht, mit meinem authentischen Selbst handeln zu können, selbst dann, wenn die Kacke am dampfen ist. Sobald ich mich an den Zuckerguss erinnere, löst das in mir so eine erdende Verbindung zu meinem kindlichen Selbst aus. Zu einem Selbst das sich freuen kann, lachen kann, alles mit einer kindlichen Naivität wahrnehmen kann und dieser Zustand hilft mir, handeln zu können, selbst wenn das erwachsene Ich von seinen Emotionen überwältigt wird und kaum glauben kann, was gerade passiert.
Unsere Kinderseelen wissen oft viel intuitiver, was sich gut anfühlt und was uns selbst entspricht.
Es ist spannend, dass mir gerade der Zuckerguss und das Plätzchenbacken mit meiner Oma einfällt, denn wie ich eingangs erwähnte war ich 5 Jahre alt. Psychologische Studien zeigen, dass wir bis zum Alter von 6 noch sehr wir selbst sind. Natürlich haben wir durch Erziehung und Sozialisierung schon einiges an Konditionierung erfahren, aber die hauptsächliche Konditionierung fängt dann mit der Schule an.
Mich bringt das zu folgenden Erkenntnissen: Manchmal entwerten wir Erinnerungen im Nachhinein, weil wir denken, dass unsere späteren Erfahrungen mit einer Person das „wahre“ Bild von jemandem abgäbe. Wir sind jedoch jederzeit in der Lage, Dinge neu zu hinterfragen und anders zu bewerten. Unsere Kinderseelen wissen oft viel intuitiver, was sich gut anfühlt und was uns selbst entspricht.
Mir entspricht es, nach einer gewissen Phase, in der ich mir alle Gefühle - gerade auch die negativen - erlaubt habe, Zuckerguss über mein Leben zu schütten und gleichzeitig niemandem diesen Zuckerguss aufdrängen zu wollen. Vielmehr mit aller Ernsthaftigkeit und mit allem Respekt die Gefühle anderer anzuerkennen und dennoch selbst nach meinen Regeln zu spielen.
Dieses Jahr ist es gerade an Weihnachten für viele Menschen besonders schwer und vielleicht auch für dich. Vielleicht kannst du einen lieben Menschen nicht sehen, weil es einfach sicherer ist, sich auf Abstand zu halten. Vielleicht musst du arbeiten oder bist in Quarantäne. Vielleicht ist dir absolut nicht nach Zuckerguss - das muss es nicht. Aber vielleicht fällt dir eine schöne Erinnerung ein, die dir das Gefühl von Geborgenheit vermitteln kann, eine Erinnerung, die aus deiner Kindheit kommt oder die du für dich selbst geschaffen hast, eine Erinnerung, wo du in dir Geborgenheit erleben konntest und vielleicht kann diese Erinnerung ein kleines Licht sein, dass dich heute erreicht.
Als ich mir eben ein Plätzchen aus der Dose nahm musste ich an den Zuckerguss von vor 30 Jahren in Omas Küche denken und diese Erinnerung ist so lebendig und echt, dass ich vor meinem geistigen Auge deutlich sehen kann, wie sich Puderzucker, Wasser und Lebensmittelfarbe vermischen. Und dann muss ich grinsen und bin sehr dankbar für schöne Erinnerungen, die schöne Erinnerungen bleiben dürfen.
Ich schicke dir ein Plätzchen mit oder ohne Zuckerguss - das darfst du dir aussuchen - und wünsche dir von Herzen ein paar gute Tage; wie und was auch immer sie für dich sein werden/sind. Mögen dir kleine Erinnerungen ein paar Lichtmomente bescheren und dich zumindest für einen kleinen Moment sicher und gehalten in dir selbst fühlen lassen.